In dem letzten Blogartikel ging es um das Soziale Panorama – um die Arbeit mit inneren Personifikationen. Diesmal geht es wieder um innere Welten, jedoch mit einem ganz anderen Ansatz und Ziel: Voice Dialogue.
Voice Dialogue wurde Ende der 70er Jahre von den Psychologen Dr. Hal Stone und Dr. Sidra Stone entwickelt. Hal Stone, der über 25 Jahre als Analytiker nach C.G. Jung arbeitete, und Sidra Stone, eine klinische Psychologin mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen, schufen gemeinsam diesen Ansatz, der sowohl psychologische als auch spirituelle Dimensionen umfasst.
Voice Dialogue basiert auf der Annahme, dass unsere Persönlichkeit aus verschiedenen Teilpersönlichkeiten besteht, die unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen, und dass wir mit diesen Anteilen direkt in Kontakt treten können. Dies ermöglicht es uns, innere Konflikte zu verstehen, festgefahrene Verhaltensmuster zu erkennen und neue Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung und -steuerung zu entwickeln. Statt uns mit bestimmten Persönlichkeitsanteilen zu identifizieren, eröffnen sich neue Perspektiven und ein tieferes Verständnis unseres eigenen Selbst. All das kann zu tiefgreifenden Erkenntnissen und persönlichem Wachstum führen und bietet eine wertvolle Ergänzung zum Methodenrepertoire von Coaches und Therapeuten.
Voice Dialogue lässt sich bei allen Arten von inneren Konflikten einsetzen – von Entscheidungsschwierigkeiten über Beziehungsprobleme bis hin zur Arbeit mit einschränkenden Überzeugungen. Auch für die Lösung von Konflikten zwischen Personen oder in Teams erweist sich Voice Dialogue als hervorragender Ansatz und bietet darüber hinaus zahlreiche weitere Anwendungsmöglichkeiten.
Theoretische Grundlagen des Voice Dialogue
Beginnen wir mit den Grundlagen. Die Entwicklung unserer Persönlichkeit beginnt bereits bei unserer Geburt. Als hilflose Neugeborene lernen wir, mit der Welt um uns herum zu interagieren. Dabei bilden wir Verhaltensweisen aus, die uns dabei helfen, unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Meistens diejenigen, die von unserer Umwelt akzeptiert oder belohnt werden, und wir unterdrücken andere Verhaltensweisen, die sanktioniert und abgelehnt werden. So formen sich im Laufe der Zeit Muster, die bestimmen, welche Verhaltensweisen wir regelmäßig zeigen und welche wir verbergen. Diese Verhaltensweisen formen unsere Persönlichkeit, unser Selbstbild und die Art, wie andere uns sehen – aber ist das schon das ganze Bild?
Vielleicht ist unser wahres Selbst deutlich vielschichtiger. Vielleicht sind wir komplexer organisiert und tragen viele mehr oder weniger autonome „Subpersönlichkeiten“ in uns, die je nach Anlass in Erscheinung treten. Vom „Angepassten“ über den „Inneren Kritiker“ bis hin zum „Rebellen“ oder „Inneren Kind“. Jede dieser Subpersönlichkeiten hat eine eigene Stimme, eine eigene Rolle, ein eigenes Verhalten und ihre eigenen Stärken und Schwächen.
Voice Dialogue basiert auf dieser Annahme. Doch geht Voice Dialog weit über die Annahme, dass wir nicht eine einheitliche Persönlichkeit sind, sondern aus vielen verschiedenen Anteilen bestehen, hinaus. So entstehen beispielsweise diese Teilpersöhnlichkeiten (im Voice Dialogue auch Selbste oder Stimmen genannt) nicht einzeln, sondern immer paarig, als Teil und Gegenteil. Mit manchen Selbsten identifizieren wir uns (sie werden Hauptselbste genannt), andere leugnen wir oder lehnen sie ab (sie werden verdrängte Selbste genannt).
Unsere Hauptselbste, also die Selbste, mit denen wir uns identifizieren, formen zusammen das Operating Ego, das, was wir für gewöhnlich mit unserer Identität verwechseln. Es gibt jedoch noch eine Instanz hinter den Selbsten, die selber kein Anteil ist: Das Bewusste Ich. Dieses zu entwickeln, ist das Ziel der Voice Dialog-Arbeit. Um einen Vergleich zu nutzen: die Selbste sind wie Sterne, das Bewusste Ich ist der Himmel. Aber sehen wir es uns Schritt für Schritt an…
Das Konzept der Teilpersönlichkeiten
Das Fundament des Voice Dialogue-Ansatzes ist also die Annahme, dass wir Menschen keine statische Gesamtpersönlichkeit besitzen, sondern aus einem komplexen System verschiedener Teilpersönlichkeiten bestehen. Diese Teilpersönlichkeiten entwickeln sich im Laufe unseres Lebens als Reaktion auf unsere Erfahrungen, Erziehung und die Anforderungen unserer Umwelt.
Jedes Selbst hat seine eigenen Verhaltensmuster, Ziele und Strategien, Überzeugungen und Werte, Gefühle und Emotionen, körperlichen Ausdrucksformen (Körperhaltung, Stimme, Gestik) und energetischen Qualitäten, die unser Erleben und Verhalten in verschiedenen Lebenssituationen prägen.
Diese Selbste sind keine Anzeichen einer pathologischen Spaltung, sondern ein normaler und gesunder Bestandteil des menschlichen Bewusstseins. Sie ermöglichen uns, (relativ) flexibel auf unterschiedliche Lebenssituationen zu reagieren und verschiedene soziale Rollen einzunehmen.
Die Polarität der Selbste – Der Teil und sein Gegenteil
Selbste entstehen gemäß dem Voice Dialogue-Modell nicht einzeln, sondern immer paarig. Sie entstehen als Teil und Gegenteil aus einer ursprünglichen Einheit. Beispiele für solche Gegensatzpaare sind:
- Macht/Verletzlichkeit
- Denken/Fühlen
- Antrieb/Nichtstun
- Kontrolle/Hingabe
- Spiritualität/Triebhaftigkeit
- Ernsthaftigkeit/Verspieltheit
Zunächst sind sie also einfach nur zwei Pole, die aus einer gemeinsamen Energie entstanden sind. Sie könnten sich gegenseitig unterstützen oder ergänzen. Doch dann geschieht etwas, das zu vielen Schwierigkeiten führen kann: Wir beginnen, manche Seiten zu bevorzugen…
Hauptselbste und die verdrängten Selbste
…und andere Seiten zurückzuweisen. Die bevorzugten werden als Hauptselbste (Primary Selfes) bezeichnet – jene Persönlichkeitsanteile, mit denen wir uns stark identifizieren und die wir als zu unserem Ich gehörend wahrnehmen.
Ein stark herausgebildestes Hauptselbst bedeutet in der Regel, dass auf der gegenüberliegenden Seite ein „verdrängtes Selbst” zu finden ist, welches weniger Aufmerksamkeit erhalten hat oder sogar vollständig verleugnet wird.
Nehmen wir an, jemandem ist Erfolg außerordentlich wichtig. Er arbeitet viel und unternimmt zahlreiche Anstrengungen, um erfolgreich zu sein und Anerkennung für seine Leistungen zu erhalten. Dies ist nun ein Hauptselbst. Vielleicht ist er nicht besonders gut darin, sich zu entspannen und Dinge ohne konkretes Ziel zu genießen. Möglicherweise verurteilt er sogar bei sich oder anderen, einfach im Moment zu leben, ohne etwas erreichen zu wollen, oder leugnet selber, so etwas zu „brauchen“, da nur Schwächlinge sich dem Müßiggang hingeben. Der entspannte, genießende Teil, der keine Leistung erbringen muss, ist in diesem Fall zu einem verdrängten Selbst geworden, vielleicht sogar zu einem verbannten Selbst (Demonic Self).
Jeder Mensch bevorzugt im Laufe seines Lebens Hauptselbste (Primary Selves), mit denen er sich identifiziert. Diese bilden zusammen eine Instanz, die als das „Operating Ego“ bezeichnet wird – entwickelt als Schutz- und Überlebensstrategie. Dies ist die Persönlichkeit, die wir nach außen zeigen und – solange wir unser Bewusstes Ich noch nicht erfahren haben – für unser Ich halten.
Im Gegensatz dazu existieren verdrängte Selbste (Disowned Selfs) – Persönlichkeitsanteile, die wir unterdrücken oder verleugnen (vielleicht so sehr, dass wir sie gar nicht kennen), weil sie in unserem Umfeld nicht akzeptiert wurden oder weil sie im Widerspruch zu unserem Selbstbild stehen.
Hier eine beispielhafte Liste typischer Selbste, die in der Voice Dialogue-Arbeit auftauchen können:
- Antreiber: Sorgt für Leistung und Erfolg
- Kritiker: Bewertet und korrigiert
- Perfektionist: Strebt nach Fehlerlosigkeit
- Kontrolleur: Will alles im Griff haben
- Gefallenwollender: Sucht Anerkennung und Bestätigung
- Rationaler: Analysiert und plant
- Genießer: Möchte das Leben genießen
- Abenteurer: Möchte Abwechslung und Freiheit
- Spiritueller: Sucht höhere Bedeutung
- Krieger/Kämpfer: Setzt sich durch und verteidigt
- Rebell: Widersetzt sich Autoritäten
- Angepasster: Ordnet sich unter
- Faulenzer: Genießt das Nichtstun
- Verletztes Kind: Trägt emotionale Wunden
- Spielendes Kind: Lebt im Moment, ist spontan
- Magisches Kind: Träumt und ist kreativ
Diese Beispiele, können je nach individueller „Persönlichkeit” den Haupt- oder verdrängten Selbsten zugeordnet werden.
Diese Unterteilung der Hauptselbste und verdrängten Selbste muss nicht mit der Polarität, in der sie entstanden sind, zusammenfallen; es gibt jedoch oft eine starke Überlappung. Immer mehr Menschen können beispielsweise ihr Streben nach Erfolg und ihre Verletzlichkeit vereinen (Hauptselbste), allerdings leben sie diese oft in unterschiedlichen Kontexten aus.
Diese Dynamik zwischen Haupt- und verdrängten Selbsten ist die Quelle vieler innerer und äußerer Konflikte und psychischer Spannungen.
Das Bewusste Ich (Aware Ego)
Ein weiteres Schlüsselkonzept im Voice Dialogue ist das Bewusste Ich (Aware Ego). Hierbei handelt es sich nicht um eine weitere Teilpersönlichkeit, sondern um einen Bewusstseinszustand, der es uns ermöglicht, die verschiedenen Teilpersönlichkeiten wahrzunehmen, ohne mit ihnen identifiziert zu sein. Es ist ein Bewusstseinszustand, der alle Anteile anerkennt und gleichzeitig unabhängig von ihnen existiert. Das Bewusste Ich verbindet sich mit einem höheren Bewusstsein und kann gleichzeitig die Stimmen und Energien unserer verschiedenen Selbste wahrnehmen.
Die Entwicklung des Bewussten Ichs erfolgt durch den Prozess der bewussten Disidentifikation von unseren Selbsten und damit dem Erkennen, dass wir mehr sind als unsere Teilpersönlichkeiten. Es schafft einen inneren Raum, in dem die unterschiedlichen Stimmen gehört werden können, ohne dass eine von ihnen die Kontrolle übernimmt. Die Entwicklung dieses Bewussten Ichs ist das zentrale Ziel der Voice Dialogue-Arbeit. Es ermöglicht:
- Größere Wahlfreiheit im Denken, Fühlen und Handeln
- Die Integration aller Selbste in uns
- Ein tieferes Verständnis der eigenen inneren Dynamik
- Inneren Frieden, Authentizität und Selbstakzeptanz
- Verbesserte Beziehungsfähigkeit
Genau das macht die Verschiedenheit zu vielen anderen Ansätzen in der Arbeit mit inneren Anteilen aus. Es geht nicht primär darum, innere Anteile zu heilen, sondern darum, sie zu sehen und zu verstehen, um letztlich herauszufinden und zu erleben, dass wir mehr sind als diese inneren Anteile und dass es da noch etwas gibt, das voller Frieden ist und liebevoll auf das Innere und Äußere schauen kann, ohne damit identifiziert zu sein. Aus diesem Zustand heraus, verbunden mit etwas Größerem, können wir klare, nicht-verwickelte Entscheidungen treffen und einen Weg gehen, der frei und friedvoll ist.
„Das Bewusste Ich ist ein Ausdruck eines psycho-spirituellen Bewusstseinsprozesses. Das Bewusste Ich hat die Aufgabe, die geistige Welt in all ihrer Herrlichkeit und auf der anderen Seite die Welt der Materie, der Emotion, der Leidenschaft und der psychologischen und mentalen Wirklichkeiten zu umarmen.“ – Hal und Sidra Stone
Die energetische Dimension des Voice Dialogue
Jede Teilpersönlichkeit verfügt nicht nur über eigene Gedanken und Gefühle, sondern auch über eine eigene energetische Qualität, die man spüren kann, wenn dieses Selbst hervortritt. Manche Selbste strahlen „persönliche Energie“ aus (warm, verbindend), andere eine „unpersönliche Energie“ (kühl, abgegrenzt).
Wenn wir mit einem bestimmten Selbst identifiziert sind, fließt unsere Energie in dieses Selbst und verstärkt es. In der Voice Dialogue-Arbeit lernt man, diese Energieflüsse bewusst wahrzunehmen und sie willentlich zu steuern – um, wie Sidra Stone es ausdrückt, „unser eigenes Instrument zu spielen”.
Macht und Verletzlichkeit
Es gibt eine weiter zugrunde liegende Polarität: Macht und Verletzlichkeit. Im Voice Dialogue wird Verletzlichkeit als das Fenster zu unserer Seele betrachtet. Sie ist das Tor zur Verbindung und Intimität. Sie repräsentiert die Qualität der Offenheit, Unschuld und Schönheit – aber auch die Schutzlosigkeit gegenüber Verletzung und Missbrauch.
Unter dem Schutzmantel der Macht, gewebt aus verschiedenen Hauptselbsten, sind wir verletzlich. Im Laufe unseres Lebens haben wir gelernt, diesen Schutz zu bevorzugen, auf Kosten von echter Nähe und Intimität. Es ist die Aufgabe vieler unserer Hauptselbste – uns zu beschützen und unser physisches und psychisches Überleben zu sichern.
Voice Dialogue zeigt einen Prozess auf, sich dieser Verletzlichkeit wieder bewusst zu werden und sie behutsam zu nähren.
Die Würdigung der Selbste – Respekt für alle Anteile
Eine zentrale Erkenntnis in Voice Dialogue ist, dass alle Selbste einen wichtigen Beitrag leisten und Würdigung verdienen (nicht unbedingt ihr Verhalten, aber ihre Absicht). Weder das Hauptselbst noch das verdrängte Selbst sind „schlecht“ oder zu bekämpfen, sondern jedes hat oder hatte eine wichtige Funktion.
Hal und Sidra Stone betonen: “Das Hauptselbst muss man immer würdigen. Für die praktische Voice Dialogue Arbeit ist dies wohl eine der eindrücklichsten Empfehlungen, die wir geben können.”
Der Transformationsprozess
Der Weg vom Operating Ego zum Aware Ego ist ein Transformationsprozess, der durch die Disidentifikation von unseren Selbsten und die Integration unserer verdrängten Selbste geschieht. Dabei verändert sich nicht nur unser Bewusstsein, sondern auch unser energetisches Erleben. Wir gewinnen Zugang zu einem breiteren Spektrum von Energien und können diese flexibler und bewusster einsetzen.
Kommen wir zur Praxis.
Voice Dialogue – Vorbereitung und Ablauf einer Sitzung
Bevor du selbst Voice Dialogue-Sitzungen mit anderen gibst, möchte ich dir ans Herz legen, selber einige Sitzungen als Klient zu erleben oder, noch besser, eine Ausbildung darin zu absolvieren. Es können sich sehr unangenehm auftretende Anteile zeigen, und du solltest erfahren darin sein, dem Klienten Sicherheit zu vermitteln und mit diesen Anteilen klar und wertschätzend zu kommunizieren.
Voice Dialogue ist mehr als eine Technik – es ist ein Prozess, der das Bewusstsein erweitert und die Integration verschiedener Persönlichkeitsanteile fördert. Eine typische Voice Dialogue-Sitzung umfasst folgende Phasen:
Vorbereitung der Voice Dialogue-Sitzung
Zu Beginn einer Voice Dialogue-Sitzung ist es wichtig, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Du benötigst mindestens drei Sitzgelegenheiten (Stühle oder Kissen) – einen für dich und mindestens zwei für den Coachee, zwischen denen er wechseln kann. Es kann jedoch in einer Sitzung zu einem Bedarf für deutlich mehr Plätze für sich zu Wort meldende Anteile kommen. Plane mindestens 60-90 Minuten für eine vollständige Sitzung ein und stelle dem Klienten bereits im Vorgespräch die Grundprinzipien und den Ablauf der Methode vor, damit er weiß, was ihn erwartet.
Ablauf einer Voice Dialogue-Sitzung
Sorge für eine gute vertrauensvolle Verbindung – du zu dir, zwischen euch und möglichst auch der Klient zu sich selbst. Erkläre dem Klienten (nochmal) den Prozess und betone, dass es nicht darum geht, Anteile zu verändern, sondern sie kennenzulernen und zu verstehen.
1. Klärung des Anliegens und der beteiligten Selbste
Beginne mit einem Gespräch über das Anliegen des Klienten. Achte auf Hinweise auf Hauptselbste und mögliche verdrängte Selbste. Typische Fragen könnten sein:
- „Welche Seiten in dir sind an diesem Thema beteiligt?“
- „Welcher Teil von dir ist besonders stark in dieser Situation?“ oder „Welche innere Stimme meldet sich hier zu Wort?“ oder „Wenn dieser Konflikt verschiedene Stimmen hätte, was würden sie sagen?“
- „Welcher Teil in dir möchte X, und welcher Teil möchte Y?“
2. Auswahl eines Selbstes für den Dialog
Wähle ein Selbst aus, mit dem du beginnen möchtest. Dies wird meist eine dominante Stimme sein, die im Vorgespräch deutlich wurde, oder eine, die für das Anliegen des Klienten besonders relevant erscheint.
Lade den Klienten ein, dieses Selbst näher kennenzulernen:
„Ich würde gerne mit dem Teil in dir sprechen, der [Beschreibung der Teilpersönlichkeit, z.B. ‚immer alles perfekt machen will‘]. Wärst du bereit, diesem Teil eine Stimme zu geben?“
3. Positionswechsel in das ausgewählte Selbst
Bitte den Klienten, den Platz zu wechseln, sich zum Beispiel physisch auf einen anderen Stuhl zu setzten. Dieser räumliche Wechsel unterstützt den inneren Prozess der Identifikation mit der Teilpersönlichkeit.
„Würdest du bitte auf diesen Stuhl wechseln und von dort aus als der/die, der/die [Beschreibung der Teilpersönlichkeit] sprechen?“
4. Der Dialog mit einem Selbst
Ein wichtiger Teil der Voice Dialogue-Arbeit besteht darin, mit den verschiedenen Selbsten direkt zu sprechen (während der Klient, sozusagen aus dem Hintergrund, mithört). Führe ein direktes Gespräch mit dem Selbst, nicht mit dem Klienten über die Teilpersönlichkeit. Dazu:
- Bitte den Klienten, den Platz zu wechseln, um einen bestimmten Anteil zu verkörpern
- Sprich direkt mit diesem Anteil (nicht über ihn)
- Stelle offene, respektvolle Fragen
- Höre aufmerksam zu und würdige die Perspektive dieses Anteils
- Beende das Gespräch mit Dank für die Offenheit
In der Regel wirst du mit einem Hauptselbst beginnen, da dieses für Sicherheit sorgt. (Mit dessen Erlaubnis kannst du später zu einem verdrängten Selbst wechseln.)
Sprich die Teilpersönlichkeit direkt an:
„Hallo [Name oder Beschreibung der Teilpersönlichkeit], danke, dass du da bist. Darf ich fragen, wie lange du schon Teil von [Name des Klienten] bist?“
„Wie ist dein Name, wie darf ich dich nennen?“
Weitere hilfreiche Fragen für den Dialog:
- „Was ist deine Aufgabe/Funktion?“
- „Wie hilfst du [Name des Klienten]?“
- „Wovor beschützt du ihn/sie?“
- „Was würde passieren, wenn du nicht da wärst?“
- „Wie fühlst du dich in deiner Rolle?“
- „Gibt es etwas, was du brauchst?“
Achte während des Dialogs auf:
- Veränderungen in Körperhaltung, Stimme und Ausdruck
- Energetische Qualität der Teilpersönlichkeit
- Überzeugungen und Glaubenssätze, die zum Ausdruck kommen
- Beziehung zu anderen Teilpersönlichkeiten
Wenn du diesen Schritt abschließen möchtest, beende den Dialog respektvoll und würdigend:
„Vielen Dank für dieses Gespräch und deine Offenheit. Ich würde das Gespräch nun gerne beenden. Gibt es noch etwas Wichtiges, das du sagen möchtest?“
5. Reflexion und Integration
Bitte den Klienten, wieder auf seinen ursprünglichen Platz zurückzukehren. Gib ihm einen Moment Zeit, um sich von der Identifikation mit der Teilpersönlichkeit zu lösen.
Im Nachgespräch reflektiert der Klient seine Erfahrung:
- Wie hat der Klient den Dialog erlebt?
- Welche neuen Erkenntnisse gibt es über die Teilpersönlichkeit?
- Wie verändert sich dadurch sein Blick auf das ursprüngliche Anliegen?
Du kannst von hier nochmal zu Schritt 4 zurückkehren, mit Schritt 6 weitermachen, zu Schritt 8 übergehen, oder den Prozess beenden.
6. Dialog mit der Gegenstimme (optional)
Oft ist es sinnvoll, nach dem Dialog mit einer Teilpersönlichkeit auch mit ihrer „Gegenstimme“ zu sprechen – jener Teilpersönlichkeit, die eine gegensätzliche Position vertritt. Dies ermöglicht ein tieferes Verständnis der inneren Dynamik und fördert die Balance zwischen den Polen.
7. Reflexion und Integration Siehe Schritt 5.
8. Entwicklung des Bewussten Ichs
In fortgeschrittenen Sitzungen kannst du gezielt an der Entwicklung des Bewussten Ichs arbeiten, das die verschiedenen Teilpersönlichkeiten wahrnehmen kann. Hierfür kann der Klient eine weitere Position im Raum einnehmen, von der aus er seine Teilpersönlichkeiten wahrnehmen kann, ohne mit einer von ihnen identifiziert oder verwickelt zu sein.
Letztlich ist es schwer zu sagen, wann der Klient wirklich in seinem Bewussten Ich-Zustand ist, denn es gibt immer wieder Anteile, die sehr weise erscheinen, jedoch immer noch Selbste sind und in dem Moment auftauchen. Das Bewusste Ich ist kein Zustand, den man kontrollieren oder erzwingen kann. Es entsteht eher etwas, das wie ein geschenkter Augenblick der Klarheit, Ruhe und Weite erscheint. Und genau darin liegt sowohl die Herausforderung als auch die Schönheit des Bewussten Ichs.
Noch ein paar Hinweise
Voice Dialogue wird umso wirksamer, wenn du folgende Aspekte beachtest.
Deine innere Haltung
Als Coach einer Voice Dialogue-Sitzung ist deine Haltung ein entscheidender Faktor für den Erfolg der Arbeit:
- Offenheit und Neugierde: Begegne allen Teilpersönlichkeiten mit ehrlichem Interesse.
- Wertschätzung: Jede Teilpersönlichkeit hat ihre Berechtigung und erfüllt eine wichtige Funktion.
- Nicht-Urteilende Haltung: Vermeide Bewertungen wie „gut“ oder „schlecht“, „positiv“ oder „negativ“.
- Respekt für Widerstände: Akzeptiere, wenn bestimmte Teilpersönlichkeiten (noch) nicht in Erscheinung treten wollen. Erzwinge nichts.
- Eigene Zentrierung: Bleibe in deiner eigenen Mitte, auch wenn intensive Energien auftauchen. Deine Stabilität ist der sichere Raum für den Prozess.
Präzise Themenstellung
Wenn das Thema zu vage ist, kann Voice Dialogue oft nicht effektiv eingesetzt werden. Wähle daher besser ein konkretes Thema und einen konkreten Kontext, damit die Anteile klar identifizierbar sind.
Anteil oder nicht?
Achte darauf, dass du wirklich mit einem Anteil arbeitest, denn Anteile haben Emotionen, sind aber nicht die Emotion. Es mag einen wütenden oder ängstlichen Anteil geben, er ist aber nicht „die Wut“ oder die „Angst“. Arbeite daher nicht mit der „Wut“ oder „Angst“, sondern mit dem wütenden oder ängstlichen Anteil und seiner Perspektive.
Arbeit mit inneren Konflikten
Bei der Arbeit mit inneren Konflikten ist es wichtig, beide (oder alle) beteiligten Seiten zu hören und gleichwertig zu behandeln. Oft neigen Klienten dazu, eine Seite als „problematisch“ und die andere als „richtig“ anzusehen. Die Aufgabe des Coaches ist es, die Weisheit und den Wert in jeder Position zu würdigen und sichtbar zu machen. Konflikte sind oft nicht offen sichtbar. Da Klienten sich mit einer Seite verbünden, scheint es so, als gäbe es nur einen „Problemanteil“ – aber wer hat denn das Problem mit dem Anteil? Es ist nicht das Bewusste Ich, wer also dann?
Typische Konfliktkonstellationen sind:
- Kritiker vs. Inneres Kind
- Antreiber vs. Erschöpfter/Selbstfürsorger
- Kontrolleur vs. Spontaner/Kreativer
- Rationaler vs. Emotionaler
- Angepasster vs. Rebell
Ein zentrales Ziel der Voice Dialogue-Arbeit bei inneren Konflikten ist nicht die „Lösung“ des Konflikts im Sinne einer Entscheidung für eine Seite, sondern das Schaffen eines inneren Dialograums, in dem beide Seiten gehört werden können und ein „Sowohl-als-auch“ möglich wird.
Übung: Deine inneren Stimmen
Vielleicht hast du Lust auf eine kleine Selbstbeobachtung!?
Achte in der nächsten Zeit einmal darauf, welche inneren Stimmen oder Dialoge, vielleicht sogar Konflikte und starken emotionalen Reaktionen du erlebst. Dazu denke entweder absichtlich an ein bestimmtes Thema oder beobachte dich einfach immer wieder über den Tag hinweg. (Wichtig dabei ist nur, dass du dich urteilsfrei beobachtest und nicht selber einbringst.)
Identifiziere für jede Situation die beteiligten Teilpersönlichkeiten und achte auf typische Aussagen, Gefühle und Körperempfindungen.
Nach einiger Zeit kannst du vielleicht wiederkehrende Muster erkennen und so einen ersten Zugang zu deinen Selbsten bekommen.
Zusammenfassung und Ausblick
- In dem Modell von Voice Dialogue unterscheidet man zwischen den Anteilen und dem Bewussten Ich.
- Wir neigen dazu, uns mit manchen Anteilen zu identifizieren (Hauptselbste) und andere in uns nicht zu sehen oder sehen zu wollen (verdrängte Selbste). (Im Grunde sehen wir oft beide Seiten nicht – denn den einen halten wir für unser Ich, und den anderen gibt es nicht.)
- Die Hauptselbste bilden zusammen das Operating Ego, das wir für unsere Persönlichkeit, für unser Ich halten. Dahinter existiert jedoch eine Instanz, die friedlich und unverwickelt auf alles schauen kann. Sich mit dem Bewussten Ich zu verbinden, führt zu innerer Freiheit und Frieden. Dies ist das eigentliche Ziel von Voice Dialogue.
- In der Voice Dialogue-Arbeit lassen wir die Anteile zu Wort kommen, indem wir zunächst gleichsam zu ihnen werden und der Coach sich mit ihnen unterhalten kann. Zum Abschluss einer Sitzung versucht der Klient, die Position des Bewussten Ichs einzunehmen, das unverwickelt und verstehend auf diese Anteile schauen kann. (Sollte diese Position noch nicht unverwickelt und friedlich sein, handelt es sich noch nicht um die Position des Bewussten Ichs.)
- Das Bewusste Ich ist kein Anteil, sondern eine Art friedlicher Hintergrund mit einem eigenen Weg und einer spirituellen Dimension. Ein Bewusstsein über diesen Weg zu erlangen und das liebevolle Erkennen, dass wir mehr sind als unsere inneren Anteile, macht Voice Dialogue letztlich zu einer eher spirituellen Methode. Nicht im Sinne einer bestimmten Lehre, sondern als Erfahrung, die über das Alltägliche hinausgeht.
Ich hoffe, ich habe deine Neugier auf Voice Dialogue geweckt. In meinem nächsten Blogartikel werde ich einige Vertiefungen in der konkreten Arbeit mit dieser Methode vorstellen.
Wenn du mehr über Voice Dialogue erfahren möchtest, dann ist vielleicht unsere Ego State Coaching-Ausbildung etwas für dich. Hier stelle ich verschiedene Konzepte der Teilearbeit vor, darunter natürlich auch Voice Dialogue.
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